Der Engel der Behinderten ist nicht der Schutzengel aus Urgroßmutters Zeiten, jener Schützende, der das sorglose Kind über die morsche Brücke des Wildbachs geleitet, der tief drunten einen Abgrund durchtost. Diesen Engel brauchen sie nicht; sie brauchen überhaupt keinen Schutzengel; der ihnen beistehe, sei ein Engel des Zorns. Die man da »Behinderte« nennt und als eine Art hilf- und gefühlloser Halbmenschen anstarrt, »der Welt gantz unwerth sehr«, wie der Tod von Basel es ausruft, sie sind Männer und Frauen gleich anderen, nur daß sie eine schwerere Bürde schleppen und Probleme bewältigen müssen, die ein sogenannter Normaler nur in seltene: Fällen erfährt. – Wer nicht bereit ist, von ihnen zu lernen und ihre Leistung zu achten, belästige sie nicht mit Mitleid und Trost.—Wie viele von ihnen mußten zu tragen lernen, daß ihre Eltern sie verleugnen, daß ihre sexuelle Sehnsucht zumeist unerfüllt bleibt, daß ihnen in einer für sie nicht geschaffnen und weitgehend unbenutzbaren Umwelt Kränkung, ja Feindseligkeit widerfährt, auf den Ämtern, in den Verkehrsmitteln, auf der Straße, im Laden; ein Jahr Heuchelei der Hilfsbereitschaft ändert daran nicht eben viel. Der sie begleite, sei ein Engel des Zorns; Grieshaber hätte ihn für sie geschnitten; er kann es nicht mehr, das Blatt bleibt vakant. Vielleicht wird das Kind seines Totentanzes einmal zu solch einem Engel reifen: Es trägt schon Flügel; sein Fuß ist noch schwer. Möge es den Zorn versammeln. Möge es den Krüppel anhören. Möge es sich mit dem schwarzen Juden beraten. Möge es endlich dem Engel begegnen, der als Sturm durch die Geschichte braust.
Franz Führmann
(Führmann, Franz (Hg.) (1982): Der Engel der Geschichte Nr. 25: Engel der Behinderten. Düsseldorf: Classen)