Yanis Varoufakis:

Gestern Abend rief mich Julian Assange an. Über folgendes haben wir gesprochen

Gestern Abend, unmittelbar nach unserem ersten DiEM25 TV-Event, klingelte mein Telefon. Es war Julian. Aus dem Gefängnis. Es war nicht das erste Mal, dass er mich mit einem der wenigen Telefonate, die ihm erlaubt sind, ehrte. Immer wenn ich seine Stimme erkenne, überwältigen mich starke Emotionen. Vor allem Schuldgefühle aufgrund der Vorstellung, dass er, nach dem Auflegen, an diesem düsteren Ort bleiben wird. Und dies wegen seiner Entscheidung, uns darüber zu informieren, was die Mächtigen in unserem Namen ohne unser Wissen oder unsere Zustimmung getan haben.

 

Julian wollte die Auswirkungen von Covid-19 auf die Welt, in der wir leben, und natürlich auf seinen Fall sprechen. Er bemerkte, dass das Wahlmanifest von Jeremy Corbyn, das das Establishment als zu radikal bezeichnet hatte, jetzt unglaublich moderat erscheint. Wir lachten über die Unverfrorenheit derjenigen, die den Menschen in Großbritannien sagten, es sei unverantwortlich, ein paar Dutzend Milliarden bereitzustellen für eine angemessene Finanzierung des NHS, Sozialfürsorge für alle, Breitband-Internetzugang für die Öffentlichkeit, die Übernahme des Schienenverkehrs in öffentlichen Besitz, damit sie ordnungsgemäß funktioniert. Das waren schließlich dieselben Leute, die jetzt, wo big business und der Kapitalismus im Allgemeinen in ernsthaften Schwierigkeiten stecken, scheinbar einen Geldbaum entdeckt haben und ankündigen, dass Billionen in die Wirtschaft gepumpt werden sollen. Julian wusste nicht (wie soll er es auch wissen, wenn ihm die Gefängnisbehörden den Zugang zu Zeitungen, zum Internet und sogar zu BBC Radio 4 verweigern), dass Boris Johnson gestern die vorübergehende Verstaatlichung der Bahnlinien angekündigt hatte – da Privatpersonen inmitten eines nationalen Notstands niemals einen anständigen Dienst leisten können.

 

Nach ein paar Minuten, in denen wir es uns erlaubten, uns am Waterloo der Neoliberalen zu ergötzen, in den Händen einer RNS, mit dem dieses System schlicht nicht zurechtkam, ohne alle seine bisherigen, als sicher gegoltenen Gegebenheiten fahren zu lassen, diskutieren wir, was dies nun für unsere Zukunft bedeuten wird. Julian sagte ganz richtig, dass diese neue Phase der Krise uns zumindest deutlich macht, dass alles möglich ist. Und ich habe hinzugefügt, dass “alles” allerdings von den bestmöglichen bis hin zu den schlimmstmöglichen Entwicklungen reicht. Ob die Epidemie dazu genutzt wirde, eine bessere oder schlechtere Gesellschaft zu formen, wird natürlich von uns abhängen – davon, ob es den Progressiven gelingt, sich zusammenzuschließen. Denn wenn wir es nicht schaffen, werden die Bankiers, die Spivs, die Oligarchen und die Neofaschisten, genau wie 2008, erneut beweisen, dass sie es sind, die wissen, wie man eine Krise nutzen kann.

 

Werden wir Erfolg haben? Julian hatte dazu eine hoffnungsvolle Bemerkung: Zumindest hatten transnationale Organisationen wie Wikileaks und DiEM25 die digitalen Werkzeuge für Online-Debatten und -Kampagnen verfeinert, lange bevor Covid-19 auf den Plan trat. In gewisser Hinsicht sind wir besser vorbereitet als andere.

 

Dann sprachen wir über seinen Fall. Seine Haftbedingungen verschlechtern sich. Jetzt, da die Besuche eingestellt wurden, ist die Isolation schlimmer. Seine Anwälte sind dabei, beim Gericht eine Freilassung gegen Kaution zu beantragen. Wenn die Gesundheit eines Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh durch eine Covid-19-Infektion gefährdet ist, dann die von Julian. Wird das Gericht ihm eine Kaution gewähren? Das ist unwahrscheinlich. Wird die neue Krise die Chancen für seine Auslieferung verändern? Wir waren uns einig, dass die Antwort auf die letzte Frage lautet: wahrscheinlich, aber nur geringfügig – jetzt, wo der nationale Sicherheitskomplex in den USA und in Großbritannien Dinge zu befürchten hat, die vor einigen Wochen noch keine Rolle spielten.

 

Unser Gespräch dauerte zehn Minuten und eine Sekunde. Dann unterbrach der Gefängnisdirektor die Leitung. Der Mann, der die Gefahren und Schmerzen der Isolation besser kennt als wir alle, meldete sich zu Wort, um mir, uns, eine zehnminütige Lektion darüber zu erteilen, wie man trotz dem Eingesperrt sein bei Verstand bleibt.

 

Täuschen Sie sich nicht, lieber Leser: Julian kämpft darum, seine Fähigkeiten zu behalten, nicht den Verstand zu verlieren. Jeden Tag kämpft er stundenlang in der Einsamkeit gegen die Dunkelheit und die Verzweiflung. Wenn er sich am Telefon klar und lustig anhört, dann deshalb, weil er 20 Stunden gearbeitet hat für den Moment, in dem er seine Seite der Geschichte, seine Gedanken zur Außenwelt mitteilen kann. Niemand sollte so leben müssen.

 

Und so ist es, dass Julians Notlage – und auch seine Einsichten – uns jetzt, da wir alle in einem gewissen Zustand der Isolation sind, uns veranlassen müssen innezuhalten und in uns selbst die Kraft und die Solidarität zu entdecken, die notwendig sind, um sicherzustellen, dass diese Krise nicht verschwendet wird – dass die kranken und korrupten Mächte, die es gibt, nicht ein weiteres Mal zu den Nutznießern werden.

 

Democracy in Europe Movement 2025 (www.diem25.org)
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© Peter Rödler