Statt eines Nachrufs
Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit, die im Folgenden mit der Rezension gewürdigt wird, hat sich Andreas Möckel auch um das kulturelle Erbe der Siebenbürger Sachsen und die Förderung des Kreisauer Kreises, einer deutsch-polnischen Begegnungsstätte in Kreisau/Krzyzowa (Polen), die von Frau Freya von Molke ins Leben gerufen wurde, mit entschiedenem Engagement verdient gemacht.
In der Pädagogik verdichtete er seine Position in folgenden drei Imperativen:
Kein Kind beschämen!
Die Gewalt der Sprache beachten und verantworten!
Die kleinste pädagogische Einheit ist die Namensnennung!
Andreas Möckel (30.1.1927 - 11.12.2019)
Das Paradigma der Heilpädagogik
Edition Bentheim : Würzburg 2019
ISBN 978-3-946899-07-5
23,00 €
Diese Rezension wurde mit dem Tod von Andreas Möckel am 11.12.2019 zu einem Nachruf. Andreas Möckel, seit dem ersten Treffen 1983 kritisch förderliches Gegenüber, bald auch Freund, war wie auch diese Rezension zeigt, bis zuletzt ein sich klar positionierender (2017: 'Mehr Demokratie wagen'), dennoch nie ideologischer und außerordentlich scharfsinnig fragender Pädagoge; ein Geschenk für die, die sich darauf einlassen konnten. Bei unserem letzten Treffen von wenigen Wochen zeigte er mir innerhalb der ersten Viertelstunde überzeugend eine argumentative Schwäche an einer Stelle eines neueren Textes von mir auf, um mir dann ein Mittagessen zu machen. Andreas ist mir nicht nur als Freund unersetzbar.
Vorab: Dies ist ein lesenswertes Buch, dies ist ein wichtiges Buch, dies ist ein besonderes Buch. Andreas Möckel fasst in diesem als ‚Essay‘ ausgewiesenen Werk seine Überlegungen und Theorien aus seinen Hauptwerken – Die besondere Grund- und Hauptschule. Von der Hilfsschule zum kooperativen Schulzentrum (1981), die Geschichte der Heilpädagogik (1988) 2. Auflage (2007) mit dem Untertitel ‚… oder Macht und Ohnmacht der Erziehung‘ und Quellen zur Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung (1997) – zusammen.
Der Ausweis des Buches als ‚Essay‘ ist insofern gerechtfertigt, als Möckel seine Gedanken hier deutlich vor seinem theoretischen Hintergrund, der vor allem auch in der pädagogischen Ausarbeitung der Position Rosenstock-Huessys gründet, entwirft. Er ist nicht begründet, wollte man daraus den Wert der Schrift als grundlegendes Fachbuch zurücknehmen. In dieser Hinsicht scheint mir der Ausweis dieses Textes als Essay der Bescheidenheit des Autors entsprungen, der im Vorwort darauf hinweist den Text aus „alters- und gesundheitlichen Gründen nicht so ausführlich hätte ausarbeiten können, wie er es gerne getan hätte“, eine Relativierung die mir, wie ich zeigen werde, als ein deutliches Understatement erscheint.
Wie gesagt ist der Text von Möckel vor dem Hintergrund eines eigenen, derzeit recht unkonventionellen ‚Sprachraums‘ verfasst. Insofern ist die ausführliche Einleitung, die mit zentralen Begriffen des Textes wie dem der ‚Namensgebung‘ aus Möckels theoretischem Hintergrund in diesen Sprachraum einführt, eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Lektüre des Buches. Ohne diese Erläuterungen könnte man, angesichts der Selbstverständlichkeit mit der hier Institutionen wie ‚Familie‘, ‚Mutter‘, ‚Vater‘ usw. benannt und benutzt werden, die im heutigen Individualismus und Pluralismus ihre traditionelle Bedeutung völlig verloren haben, den Eindruck eines antiquierten, rückwärtsgewandten und überholten Textes erhalten. Angesichts der Erläuterung kann man sich aber klarmachen, dass sich Möckel hier nicht auf konkrete historische Strukturen bezieht, sondern dass es sich bei diesen Begriffen innerhalb seines Systems um symbolische Grundworte handelt die als bestimmende Kategorien sein theoretisches System begründen. In dieser Sicht gewinnen seine aus der Geschichte schöpfenden Überlegungen dann allerdings, wie gezeigt werden wird, wirklich für die Heilpädagogik hoch aktuell erkenntnisfördernden und zukunftsbedeutenden Charakter.
Die folgende vier Kapitel stellen eine gestufte Darstellung der von Möckel entworfene Heilpädagogik dar. Dabei sind die ‚Stufen‘ durch die Permanenz von Handeln und Reflexion in der heilpädagogischen Tätigkeit eigentlich immer in ihrem Zusammenhang wirksam und werden hier nur des Verständnisses wegen voneinander gelöst dargestellt.
In der ersten Stufe geht es dabei um die Krise in der Erziehung von Kindern, die als eine Vernachlässigung der Kinder auf der Grundlage der Ratlosigkeit ihrer Erzieher[1] gesehen wird. Hier wird deutlich, dass es sich bei seinem gesamten Vorhaben nicht um die Realisierung einer besonderen quasi klinischen (Heil‑)Pädagogik am (scheiternden) Kind geht, sondern um ein Heil-Werden des Erzieherischen Verhältnisses, das auf Grund der Unsymmetrie in der Verantwortung für dieses Verhältnis logisch nur vom Erzieher her gedacht werden kann „Die Krise um die es in der Heilpädagogik geht, ist eine Krise der Erwachsenen, die den Auftrag haben zu erziehen und nicht wissen, wie sie ihn erfüllen sollen.“ (S.30. Hervorh. Im Orig.)
Dabei ist diese Krise für die von Möckel entworfene Heilpädagogik nicht nur logisch konstitutiv in dem Sinne, dass diese Krise den Unterschied zu regulärer Pädagogik ausmacht, sondern die ‚Trostlosigkeit‘ dieser Krise wird als eine fruchtbare Zeit der Suchbewegungen gesehen, die das Finden fruchtbarer Lösungen des Problems erst ermöglicht. „Aber erst im Durchgang durch diese Phase eröffnet sich der Ausblick.“ (33)
An diesem Beispiel kann man die aktuelle Bedeutung der Gedanken Möckels, wie auch die Eigenart seiner Sprache sehr deutlich machen. Die ‚Trost- und Ratlosigkeit‘ die Möckel hier beschreibt entsprich im therapeutischen Prozess einer Phase, in der der/die TherapeutIn oder das Team keine eigene Idee mehr hat, damit aber frei wird für die Wahrnehmung der Einzigartigkeit des Gegenübers der sie/er unter dem ihr/ihm gegebenen ‚Namen‘ Ausdruck verleiht. Diese Situation positiv zu bewerten, sie geradezu als Voraussetzung für eine sensible Wahrnehmung der Individuen in ihrer Eigenart zu sehen, widerspricht damit radikal der ‚Lösungsorientierung‘, die nicht nur systemische Ansätze kennzeichnet, sondern auch allen heute so weit verbreiteten technologischen Verkürzungen der pädagogischen Arbeit innerlich ist.
Ganz entsprechend ist dann auch der Begriff der Kompensation, der im folgenden Kapitel als Aufgabe von Heilpädagogik fokussiert wird, zu verstehen. Auch dieser Begriff wird dem konventionellen, letztlich klinischen Verständnis, dass hier eine Sonderpädagogik den individuellen Defiziten angemessen agierend diese kompensieren muss, ein Verständnis entgegengesetzt, das in der Kompensation der gattungstypischen Ratlosigkeit – „Das Fehlen der Instinkte gilt für alle Kinder“ (72) – eine generelle Eigenschaft des Menschen erkennt, woraus sich das Recht aller Menschen ableitet einen Zugang zur dies kompensierenden mitmenschlichen Welt zu erhalten. Wenn dies in einigen Fällen nicht gelingt, wird auch dies von Möckel vom Unvermögen der Umgebung her gedacht werden, diese allgemein NOTwendige Kompensation im Einzelfall zur Verfügung zu stellen. Damit kommt hier aber bei Möckel eine pädagogische Orientierung zum Ausdruck, die mit der von Edward Seguin (1866) formulierten Aufgabe, ‚Idioten‘[2] wieder zu „Menschen der Menschheit“ werden zu lassen (Seguin 1912, S. 164) korreliert und die bis heute eine der entscheidenden Forderungen der tätigkeitstheoretischen Behindertenpädagogik darstellt.
In logischer Folge dieser Sicht gerät im Folgenden die Sprache als die Sphäre, in der sich diese wechselweisen Kompensationen abspielen, in den Fokus der Überlegungen Möckels. Hier werden die Überlegungen wie auch die wesentlichen Schwerpunktsetzungen Möckels besonders klar. So ist Sprache nicht eine einfache Übermittlung von Zeichen, sondern sie gestaltet wechselweise die Welt der Sprechenden. Sprache erläutert nicht nur, sondern sie bedeutet und verführt auch. Die ihr immer innerliche Sprachgewalt muss immer, insbesondere aber Erziehungs- und erst recht in heilpädagogischen Zusammenhängen, verantwortet werden. Die Verführungskraft kann stärken, stützen, zumuten, aber auch beschämen und kleinmachen. Start, quasi die zweite Geburt eines Menschen, ist das geben des Namens. Dieses ist in gleicher Weise eine Aufforderung – ‚sich einen Namen machen‘ – wie auch das Versprechen der Teilhabe am kulturellen Erbe. Der Akt der Namensgebung begründet damit die allgegenwärtige Dialektik menschlichen Handelns insbesondere in pädagogischen Zusammenhängen.
Dieser Blick auf die Sprache, die ohne Erziehung und Unterricht nicht denkbar wäre, verlangt nach Überlegungen die der Sprachgewalt dieser Institutionen Grenzen setzt. Dieser Aspekt beschließt die Überlegungen Möckels unter dem Titel Selbstverantwortete Lebensführung in der Pädagogik und Heilpädagogik. Unter diesem Titel werden nun die Überlegungen Möckels konkret erarbeitet. Dabei macht er in vielfältigen praktischen Zusammenhängen, auf der Basis der drei vorhergehenden Kapitel überzeugend, die Kante zwischen zu viel und zu wenig, zwischen Vernachlässigung und Kleinmachen klar, die pädagogisches und heilpädagogisches Handeln durchgängig bestimmt. Diese dezidierte Erarbeitung unterscheidet sich damit wohltuend von der Dichotomie reduktionistisch naiver pädagogischer Technologien einerseits und wolkiger Ganzheitlichkeitsforderungen aus denen keine differenzierten Überlegungen ableitbar sind. Die Überlegungen Möckels werden damit zu einer zeitgemäßen Antwort auf den Sprachzerfall der in vielen heutigen pädagogischen Diskursen vor dem Hintergrund der Gedanken und Ansprüche Möckels offen sichtlich wird!
Am Ende dieses Kapitels macht Möckel den Zusammenhang der erarbeiteten Stufen wie auch den analytischen Wert seiner Begrifflichkeit in einer Art Fazit, das durchaus das Recht auf einen eigenen Abschnitt gehabt hätte, ab Seite 139 noch einmal beeindruckend deutlich. In diesem Abschnitt nutzt der Autor die Szene ‚die Heilung des Kindes‘ aus A.S. Neill (1994, 266 ff), diese Szene deutend noch einmal dafür, die Bedeutung und den Zusammenhang seiner Stufen – Ratlosigkeit, Kompensation, Sprache und Selbstverantwortung – wie auch seine zentralen Begrifflichkeiten im praktischen Zusammenhang abschließend zu demonstrieren.
Es wird sehr deutlich: Dieses Buch, das so sehr aus heute höchst unkonventionellen Bildern und Zusammenhängen der Vergangenheit schöpft, ist eben nicht rückwärtsgewandt, quasi dokumentarisch zu lesen. Im Gegenteil wird hier aus diesen Bezügen heraus eine Sicht auf die Aufgabe der Heilpädagogik erkennbar, die sich gegenüber den individualistischen und funktionell individualisierenden Theorien und Menschenbildern heute als radikal kontrovers für eine Sicht des Menschen, aller Menschen aus ihren Zusammenhängen heraus einsetzt. So gesehen ist es ein hoch politisches Buch, das sich dem Vergessen der beziehungsvoll dialektischen Sicht auf die Menschenwelt fast aller sozial- und geisteswissenschaftlichen Theorien insbesondere der Pädagogik in der Mitte des 20. Jahrhunderts (vgl.: Tony Judt (2011) „Das vergessene 20. Jahrhundert“), in seiner Sprache überzeugend entgegenstellt.
Sich auf diese einzulassen, mag anspruchsvoll sein, es ermöglicht aber eine Lektüre, die gegenüber dem heutigen Mainstream vertiefte und verlebendigende Erkenntnisse der Dialektik menschlicher Existenz und der sich hieraus ergebenden heilpädagogischen Aufgaben ermöglicht. In dieser Sicht wird (Heil-)pädagogik zur Aufgabe eine Allgemeine Pädagogik ‚ohne Rest‘ zu realisieren.
Literaturverzeichnis
Judt, Tony (2011): Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Frankfurt am
Main: Fischer- Taschenbuch-Verl (Fischer, 19168).
Neill, Alexander Sutherland (1994): Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. 1098. - 1101. Tsd. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Rororo Rororo-Sachbuch, 6707).
Seguin, Edward (1912): Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode. nach der englischen Ausgabe des Lehrerkollegiums der Columbia Universität aus dem Jashr 1907 und nach einer ersten
Übersetzung von Herinrich Neumann (Wien) bearbeitet und mit der Bewilligung der Witwe Seguins. Unter Mitarbeit von Dr. S. Kreenberger (Hg.). Wien: Verlag von Karl Graeser.
Peter Rödler, proedler@uni-koblenz.de
[1] Ich benutze der Sprache Möckels folgend den abstrakten Begriff des Erziehers – nicht die Benennung realer Menschen – der allerdings leider im Deutschen mit dem männlichen Geschlecht konnotiert ist.
[2] Diese Forderung entstammt Seguins Werk (1866) „Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode“. Dabei muss bedacht werden, dass ‚Idiot‘ im 19. Jahrhundert noch nicht zum Schimpfwort verkommen war und als Fachbegriff etymologisch ganz gleich wie heute ‚Autist‘ gelesen werden muss: Autist von griechisch αὐτός autós = selbst und Idiot von lateinisch id = selbst!